Neueste Erkenntnisse aus der Kriminologie

Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) in Hannover darf als führend und für die öffentliche Meinungsbildung besonders einflussreich in der Bewertung und Einschätzung der Entwicklung von Jugendkriminalität bezeichnet werden. Zuletzt wurde mir eine im Auftrag des Bundesinnenministeriums durchgeführte Untersuchung bekannt, die sich mit Jugendlichen in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt beschäftigt. Man kann die Ergebnisse im Heft 2/09 der Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe nachlesen. Grundlage der dort gewonnenen Erkenntnisse war eine deutschlandweite Repräsentativbefragung von 44.610 Jugendlichen, die sämtlich Schüler einer neunten Klasse waren. Ein Viertel der Befragten besucht eine Förder- oder Hauptschule, etwas mehr ein Gymnasium bzw. eine Waldorfschule und die übrigen Schüler eine Real- oder Gesamtschule (26,8 Prozent, 29,8 Prozent, 43,4 Prozent). Die Geschlechterverteilung war nahezu hälftig. Etwa jeder vierte Befragte hatte einen Migrationshintergrund, wobei die türkischstämmigen und aus der ehemaligen Sowjetunion stammenden Jugendlichen diesbezüglich die größten Gruppen stellten (6,0 Prozent und 5,8 Prozent). Die Studie kommt in dem Fachartikel zu folgenden neun Hauptergebnissen, die hier wegen der großen Bedeutung für die Diskussion der Jugendkriminalität kurz wiedergegeben werden sollen:

1. Bei der Entwicklung der Jugendgewalt zeigen die Befunde der Dunkelfeldforschung seit 1998 insgesamt betrachtet eine gleichbleibende bis rückläufige Tendenz. Die Quote der Jugendlichen, die nach eigenen Angaben in den letzten zwölf Monaten vor der Befragung mindestens eine Gewalttat begangen haben, ist danach nicht angestiegen, sondern im Gegenteil überwiegend beträchtlich gesunken. Sie lag in acht Städten 1998/1999 zwischen 15,0 und 24 Prozent, in den Jahren 2005 bis 2008 dagegen zwischen 11,5 und 18,1 Prozent. Ein ähnliches Bild ergibt sich den Untersuchungen des KFN zufolge auch bei den Mehrfachtätern. Insgesamt kommt die Studie bereits in der ersten der insgesamt neun Thesen zu folgendem Ergebnis: „Ein drastischer Anstieg der Jugendgewalt - wie teilweise in den Medien berichtet - kann nach den vorliegenden Befunden nicht bestätigt werden." Weiter heißt es, dass diese Befunde mit den Ergebnissen übereinstimmten, die sich auf der Grundlage von Versicherungsdaten zur Häufigkeit der Gewalt an Schulen ermitteln ließen. Diese sogenannten „Raufunfälle" seien meldepflichtig, wenn ärztliche Hilfe in Anspruch genommen werden müsse. Derartige Vorkommnisse wären danach in der Zeit von 1997 bis 2007 pro 1000 Schüler um 31,3 Prozent zurückgegangen, bei erheblichen Verletzungen, die mit Knochenbrüchen einhergingen, betrage der Rückgang gar 44 Prozent.

2. Die überwiegend positiven Trends zur Entwicklung der selbstberichteten Jugendgewalt in und außerhalb von Schulen finden ihre Entsprechung im Anstieg präventiv wirkender Faktoren und im Sinken Gewalt fördernder Lebensbedingungen der Jugendlichen. Danach hat bei den befragten jugendlichen Schülern die Akzeptanz von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen seit 1998 deutlich abgenommen. Außerdem vertreten die Befragten vermehrt die Ansicht, dass sowohl Eltern wie auch Lehrer und gleichaltrige Freunde es missbilligten, wenn sie in einem Streit einen Mitschüler massiv schlagen würden. Auch wird die Anzeigebereitschaft bezüglich erlebter Gewalt als erhöht eingeschätzt und behauptet, der Anteil der Jugendlichen, die keiner elterlichen Gewalt ausgesetzt seien, sei „durchweg deutlich" angestiegen. Insgesamt kommt die Studie in diesem Bereich zu dem Ergebnis, der Rückgang der Gewalt akzeptierenden Einstellungen, der Rückgang familiärer Gewalt, der Anstieg der Gewaltmissbilligung im nahen sozialen Umfeld und die Zunahme der Anzeigebereitschaft seien ursächlich für den positiven Trend bei der Jugendgewalt.

3. Die Befunde der Dunkelfeldforschung zum Anzeigeverhalten der Gewaltopfer relativieren die Aussagekraft der polizeilichen Kriminalstatistik in mehrfacher Hinsicht. Der seit 1998 zu verzeichnende Anstieg der Jugendgewalt um bundesweit 28,4 Prozent geht nach Auffassung des KFN in „beachtlichem Maß" auf ein verändertes Anzeigeverhalten der Opfer zurück. Besonders seien in diesem Zusammenhang die ethnischen Unterschiede zu berücksichtigen. Danach zeige ein „deutsches Opfer" den „deutschen Täter" eines Gewaltdeliktes nur in 19,5 Prozent aller Fälle an. Werde ein deutsches Opfer hingegen von einem jungen Zuwanderer angegriffen, liege die Anzeigenquote bei 29,3 Prozent. Gibt es einen deutschen Täter und ein migrantisches Opfer, werde der Täter mit 18,9 Prozent am seltensten angezeigt. Auch im Falle einer Auseinandersetzung zwischen zwei Jugendlichen mit demselben Migrationshintergrund liege die Anzeigebereitschaft mit 21,2 Prozent eher im geringeren Bereich. Man regle die Angelegenheiten hier häufig unter sich. Die Untersuchung kommt daher zu dem Zwischenergebnis, junge Migranten seien aufgrund des Anzeigeverhaltens der Opfer in „allen Bereichen und Statistiken der Strafverfolgung deutlieh überrepräsentiert". Das KFN meint deshalb, es könne sich hieraus unter Umständen die Notwendigkeit ergeben, bei der Auslegung der Daten den statistisch festgestellten, unverhältnismäßig hohen Anteil junger Einwanderer an Gewaltdelikten vor dem Hintergrund eben jener „selektiv höheren Anzeigenquote" zu berücksichtigen.

4. Sowohl aus Opfer- wie aus Tätersicht zeigen die Daten zur selbstberichteten Jugendgewalt, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund häufiger Gewalttaten begehen als deutsche Jugendliche. Es wird ausgeführt, eine größere Gewaltbereitschaft sei mit Ausnahme der Asiaten bei fast allen Einwanderergruppen zu verzeichnen. Das KFN sieht sich in der Lage, die Unterschiede im Gewaltverhalten von Migranten und Deutschen „vollständig zu erklären", und zwar mit den unterschiedlichen sozialen, schulischen und familiären Rahmenbedingungen. So heißt es, Jugendliche aus Einwandererfamilien seien häufiger als deutsche Jugendliche Opfer innerfamiliärer Gewalt. Signifikant belastet sind hier Menschen, deren Eltern aus der Türkei, dem früheren Jugoslawien und aus arabischen bzw. afrikanischen Ländern stammen. Weitere Faktoren wie schlechte schulische Integration, daraus resultierende Schuldistanz und Alkohol- bzw. Drogenkonsum kämen noch hinzu. Daneben werde in diesen Familien Gewalt akzeptierenden Männlichkeitsnormen häufiger zugestimmt. Bei 25 Prozent der migrantischen Jugendlichen sei der Männlichkeitswahn fest verankert, bei deutschen jungen Männern hingegen nur bei fünf Prozent.

5. Sowohl der Querschnittsvergleich der bundesweiten Schülerbefragung 2007/2008 als auch eine Längsschnittanalyse der vom KFN seit 1998 in Großstädten durchgeführten Schülerbefragungen zeigen, dass verbesserte Bildungschancen mit geringeren Gewaltraten einhergehen.

Hier kann die Studie des KFN eindrucksvolle Zahlen präsentieren. Danach hat sich z. B. in Hannover zwischen 1998 und 2006 die Quote der türkischen Abiturienten von 8,7 auf 15,3 Prozent erhöht. Gleichzeitig ging die entsprechende Quote der mehrfach gewalttätigen jungen Türken von 15,3 auf 7,2 Prozent zurück. In München dagegen ergibt sich ein anderes Bild. Dort ist die Anzahl der türkischen Gymnasiasten im identischen Zeitraum von 18,1 Prozent auf 12,6 Prozent geschrumpft. Die Mehrfachtäterquote im Bereich der Gewalttäter ist parallel dazu von 6,0 auf 12,4 Prozent angestiegen.

6. Der stärkste Risikofaktor für Jugendgewalt ist die Einbindung in delinquente Freundesgruppen. Wer mehr als fünf delinquente Freunde in seinem Umfeld hat, wird mit 21,3 Prozent um das 50-fa-che häufiger zum Gewalttäter als ein Jugendlicher, der keine Straftäter zu seinen Freunden zählt. Der Konsum von Alkohol und illegalen Drogen, der ebenfalls einen wichtigen Risikofaktor für gewalttätiges Verhalten darstellt, ist unter Jugendlichen weit verbreitet.

7. Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und Rechtsextremismus prägen das Weltbild einer Minderheit von Jugendlichen; in einigen Gebieten fällt deren Anteil allerdings alarmierend hoch aus.

8. Die bezüglich deutscher Jugendlicher erlangten Erkenntnisse bestätigen die bisherigen Erkenntnisse anderer Untersuchungen. Jungen vertreten häufiger rechtsradikales Gedankengut als Mädchen, in ländlichen Gebieten ist jugendlicher Rechtsradikalismus verbreiteter als in den Städten, in den neuen Bundesländern häufiger als in den alten, an Hauptschulen extremer als an Gymnasien.

9. Für mehr als drei Viertel aller Jugendlichen gehörte Gewalt in den zwölf Monaten vor der Befragung nicht zum persönlichen Erfahrungsbereich. Im Gegensatz zum Gewalterleben innerhalb der Familie, welches die Schüler zu 20,5 Prozent mindestens in Gestalt einer Ohrfeige hatten, gaben nur 16,8 Prozent der Jugendlichen an, in ihrem sonstigen Umfeld innerhalb eines Jahres Opfer eines gewalttätigen Übergriffs geworden zu sein. Innerhalb Deutschlands ergeben sich danach regionale Unterschiede zwischen Nord- und Westdeutschland, wo entsprechende Taten häufiger begangen werden, und Süd- und Ostdeutschland; in Städten ist Gewalt häufiger vertreten als auf dem Land.

Interessant finde ich vor allem Punkt 1. Die Schlussfolgerung, die Jugendgewaltkriminalität sei bundesweit gleichbleibend bzw. gesunken, ist in ihrer Generalisierung meines Erachtens sehr zweifelhaft - und dies umso mehr, wenn die in der Studie untersuchte Gruppe betrachtet wird. Es wurden ausschließlich Schüler der neunten Klassen quer durch Deutschland befragt. Davon waren etwa drei Viertel oberhalb des Hauptschulniveaus angesiedelt, 50 Prozent der Befragten waren überdies Mädchen, die bekanntermaßen signifikant weniger Straftaten begehen als junge Männer. Die 9. Klassenstufe wird darüber hinaus von vielen delinquenten Jugendlichen gar nicht erst erreicht. Wie schon erwähnt: Standard der schulischen Laufbahn in sozialen Brennpunkten Berlins, wo die Grundschule sechs Jahre lang besucht wird, ist das Abgangszeugnis der siebten Klasse einer Hauptschule, die gemeinhin dreimal durchlaufen wird - ganz abgesehen davon, dass 20 Prozent der Neuköllner Hauptschüler der Schule dauerhaft fernbleiben.

Welche Relevanz dem Rückgang der sogenannten meldepflichtigen „Raufunfälle" zukommt, ist dementsprechend aus meiner Sicht ebenfalls fraglich. Viele Straftaten mit Bezug zur Schule, die mir bekannt werden, spielen sich aufgrund der „Schuldistanz" häufig nicht auf dem Schulhof ab. Vielmehr verhält es sich oft so, dass vermehrt schulfremde Jugendliche, die, wie Yilmaz, Hussein und Kaan, vielleicht früher einmal Schüler der Einrichtung waren, sich auf der Suche nach verfeindeten ehemaligen Mitschülern befinden und diesen dann außerhalb des Schulgeländes auflauern, um sie zu verprügeln. In diesen Fällen wird kein „Raufunfair gemeldet, weil einfach das „Schlachtfeld" verlagert wird. Die Pädagogen und Sozialarbeiter berichten auch, dass sich die Schüler im Klassenraum verabreden, um nach dem Unterricht andere zu malträtieren. Auch in diesen Fällen können die Lehrkräfte nur selten reagieren. Außerdem herrscht inzwischen allgemein ein Klima, in dem die aufgrund der bestehenden Hackordnung unterdrückten Kinder und Jugendlichen es vorziehen, sich schlagen zu lassen, ohne dies der Schulleitung zu melden. Diese ruft aber gemeinhin den Arzt herbei. Es hätte mich zudem interessiert, ob bei den „Raufunfällen" auch die körperlichen Angriffe auf Lehrkräfte erfasst werden. Wenn mir Lehrer schildern, die Schulleitung habe ihnen geraten, nicht anzuzeigen, dass sie von Schülern attackiert werden, kommen mir insgesamt Zweifel, ob die durchgeführten Befragungen die Realität abbilden können.

Eine weitere interessante Erkenntnis der Studie hinsichtlich des angeblichen allgemeinen Rückgangs der Gewalt fördernden Lebensbedingungen der Schüler muss ich ebenfalls stark bezweifeln. Auch hier wird die Sicht verstellt, weil im Rahmen dieser generalisierenden Aussage völlig untergeht, dass in den Ballungszentren Deutschlands, etwa im Ruhrgebiet, Frankfurt am Main oder Berlin, Kinder in Familien heranwachsen, die seit Jahren und teilweise Jahrzehnten Sozialleistungen in Anspruch nehmen und in denen Alkoholismus das Hauptproblem darstellt. Die daraus resultierende innerfamiliäre Gewalt ist eine tickende Zeitbombe für jedes in diesen Strukturen aufwachsende Kind und für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung. In Deutschland leben drei Millionen Kinder unterhalb der Armutsgrenze. Vor einigen Jahren waren es halb so viele. Diese Menschen sind oft der verbalen Gewalt ihrer Eltern ausgesetzt, sie verkommen geistig, seelisch und körperlich. Sie finden eindeutig Gewalt begünstigende Lebensbedingungen vor.

Eine weitere, im Kern ebenfalls bereits etablierte These aus der Kriminologie beschäftigt sich mit dem sogenannten „Anzeigeverhalten". Sie besagt, steigende Kriminalitätsraten seien auf vermehrte Anzeigen zurückzuführen. Ketzerisch gesagt: Wenn die Bevölkerung es unterlassen könnte, Straftaten anzuzeigen, gäbe es fast keine Kriminalität. Insbesondere mit Blick auf die Opfer körperlicher Übergriffe entsetzt mich diese Betrachtungsweise immer aufs Neue. Mir ist es dabei gleichgültig, ob ein Geschädigter sich im kriminologischen Dunkel- oder Hellfeld bewegt. Die Taten sind zu bekämpfen, nicht die Zahlen. Im Übrigen habe ich noch nie gelesen, dass der statistische Rückgang von Delikten mit der sinkenden Anzeigebereitschaft der Opfer in Relation gebracht wird. Der Rückgang der Bereitschaft, eine erlebte Straftat auch anzuzeigen, wird mir in der Praxis jedoch viel häufiger vermittelt. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die bereits angesprochenen Opfer, die spätestens nach der Gerichtsverhandlung, in der sie sich einer Gruppe recht entspannter Angeklagter gegenübersahen, später äußerten, sie fühlten sich durch die Vernehmung nochmals zum Opfer gemacht und würden nach dieser Erfahrung niemals wieder eine Straftat anzeigen. Dass ein und dieselbe Person mehrfach geschädigt werden kann, manchmal auch von derselben Tätergruppierung, gebe ich zusätzlich zu bedenken. Neu war mir im Kontext des „Anzeigeverhaltens" die Annahme, speziell Jugendliche mit Migrationshintergrund seien deshalb in den Statistiken stets überrepräsentiert, weil sie häufiger von deutschen Opfern angezeigt würden. Das ist nicht widerlegbar, deckt sich allerdings aus den dargestellten Gründen ebenfalls nicht mit meinen praktischen Erfahrungen. Bestätigen kann ich allerdings die Feststellung, dass bei Straftaten innerhalb derselben Ethnie weniger Anzeigen erstattet werden. Die Tendenz, Konflikte innerhalb des eigenen Kulturkreises zu regeln, ist ebenso unübersehbar wie problematisch. Man mag sich zunächst dem Reflex hingeben, es könne mancher Streit doch im sozialen Umfeld besser, schneller und nachhaltiger beigelegt werden, als wenn jedes Mal die Polizei gerufen wird. Das stimmt, wenn es sich dabei um kleinere Beleidigungen, eine Ohrfeige, vielleicht auch um noch nicht so ernsthafte Bedrohungen handelt. Es ist aber ein zunehmendes Phänomen, dass sich auch erhebliche Körperverletzungen plötzlich nicht mehr aufklären lassen, weil „man die Sache bereits Vinter sich geregelt habe". So bekundete ein libanesischer Angeklagter, dem vorgeworfen wurde, einen anderen jungen Libanesen wegen einer vorangegangenen Auseinandersetzung um das angemessene öffentliche Auftreten einer weiblichen jungen Verwandten mit einem Messer schwer verletzt zu haben, „Araber" klärten das untereinander und es sei bereits ein Geldbetrag zwischen den Familien als Ausgleich vereinbart worden. Im Übrigen sei ein Imam in die Angelegenheit eingeschaltet worden.

Manche Geschädigte kommen in die Verhandlung und wollen ihre Anzeige zurücknehmen, ohne die Gründe dafür darzulegen. Wenn man dann erklärt, dies sei bei gefährlicher Körperverletzung und im Übrigen bei allen Delikten, die von Amts wegen zu verfolgen seien, nicht möglich, erntet man Reaktionen zwischen Erstaunen und Verärgerung. In jedem Fall bekommt man vom „Opfer" keine verwertbare Aussage mehr. Das ist dann eine schwierige Situation für das Gericht und im Weiteren auch für den Rechtsstaat.

Immerhin haben es diese Verfahren bis in den Gerichtssaal geschafft. Mir berichten aber zunehmend junge Menschen, dass sich die schlimmsten Prügeleien unter Verwendung unterschiedlichster Waffen bewusst in rasender Geschwindigkeit zutragen, weil man sich zwar gegenseitig an die Kehle geht, aber keiner will, dass die Polizei Gelegenheit hat, einzugreifen, bevor die Sache erledigt ist. Ich habe selbst einmal eine Schlägerei in Berlin-Mitte beobachtet, in deren Verlauf Männer südländischen Aussehens mit Holzlatten aufeinander eindroschen, nachdem sie zuvor aus einem Hauseingang gerannt waren. Obwohl die Polizei relativ rasch eintraf, waren plötzlich alle wie von Zauberhand verschwunden. Manchmal vernehme ich in diesem Zusammenhang Stimmen wie: „Na, dann ist es ja auch gut, wenn eine derartige Einigkeit besteht." Mich beschleicht dabei eher ein ungutes Gefühl, denn das Recht wird aus der Hand gegeben und auf die Straße verlagert oder in ein paralleles System verschoben, indem dann ein Imam oder andere Vertreter des Korans entscheiden, was zu geschehen hat.

Zwei letzte Thesen möchte ich hier ansprechen. Die erste ist die ständig wiederholte und nach meinen Erfahrungen auch zutreffende Behauptung, dass Kinder aus Migrantenfamilien stärker der Gewalt ihrer Eltern ausgesetzt sind als Kinder deutscher Familien. Jugendrichter bearbeiten auch die sogenannten Jugendschutzverfahren, in denen Kinder Opfer von Straftaten werden. Wenn die obige Behauptung zutrifft, wo bleiben dann die Verfahren wegen „Misshandlung von Schutzbefohlenen" oder wegen „sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen"? Ich habe viele derartige Fälle verhandelt, als ich noch für die Berliner Bezirke Pankow, Prenzlauer Berg und Friedrichshain zuständig war. Außerdem habe ich über einen längeren Zeitraum richterliche Videovernehmungen von Kindern durchgeführt, die Opfer ihrer Eltern oder sonstiger Verwandter geworden waren. Es war kein Kind mit Migrationshintergrund dabei. In Neukölln-Nord tendiert die Anzahl dieser Verfahren gegen null. Weder die meist ebenfalls zugewanderten Nachbarn noch Erzieherinnen und Erzieher in Kindertagesstätten, Mitarbeiter an Schulen und Jugendämtern oder die Kinderärzte zeigen in dem zu erwartenden Umfang Verdachtsfälle an. Liegt dies daran, dass es keine körperlich sichtbaren Hinweise auf Misshandlungen oder Missbrauch gibt, oder wird weggeschaut?

Ich habe vor kurzer Zeit außerhalb des Gerichts ein Gespräch mit einem jungen Mann geführt, der aus einer türkischen Familie stammt. Er ist mehrfach verurteilt worden. Zuletzt verbüßte er eine mehrjährige Jugendstrafe wegen Kokainhandels. Seine beiden Brüder sitzen gegenwärtig langjährige Strafen ab. Mein Gesprächspartner hat bestätigt, dass seine Kindheit durch die massiven körperlichen Übergriffe seitens beider Eltern geprägt war. Sie banden ihn im Badezimmer an ein Heizungsrohr, verbrannten seine Haut mit glühenden Häkelnadeln und schlugen ihn mit dem Kopf auf einen scharfkantigen Gegenstand, als er einen Gegenstand verschluckt hatte. Seine Verletzungen waren für alle anderen sichtbar. Nur ein einziges Mal wurde hierauf reagiert. Eine Sportlehrerin sah die großen Hämatome und schaltete sofort das Jugendamt ein. Damals lebte die Familie in Nordrhein-Westfalen. Der Junge kam für einen Monat in ein Heim. Er verbrachte dort die einzige Zeit seiner Kindheit, in der er nicht verprügelt wurde. Dann gelobten die Eltern Besserung, bekamen das Kind zurück, und alles ging von vorn los. Ich habe ihn gefragt, ob das Schlagen der Kinder bei den Türken verbreitet sei, was er erstaunt bejahte, da diese Tatsache ihm allgemein bekannt erschien. Genauso üblich sei es, dass solche Taten von Türken nicht angezeigt würden. Alle wissen alles, aber den Eltern die deutschen Behörden auf den Hals zu hetzen, kommt für die Türken den Ausführungen des Mannes zufolge nicht in Betracht. Er war verblüfft, als ich ihm mitteilte, dass die Eltern für das, was sie ihm antaten, zu bestrafen gewesen wären. Wenn mein Gesprächspartner recht hat, leben in Deutschland Tausende von misshandelten Migrantenkindern, die potenzielle Gewalttäter sind. Uns stehen keine tauglichen Mittel zur Verfügung, diesen Kindern zu helfen, wenn die Taten nicht zur Anzeige gelangen.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der an den Problemen bewusst vorbeigeschaut wird: aus Tradition seitens der Zuwanderer, aus Bequemlichkeit und Angst seitens der Deutschen. Das hat sich auch in München-Solln gezeigt. Die Menschen achten nicht mehr aufeinander und stehen nicht mehr füreinander ein. Wir versagen als Staat und als Individuen. Das können wir uns nicht mehr leisten.

Daraus folgend muss zwangsläufig auch die allgemeine Behauptung der Untersuchung bezweifelt werden, dass das Umfeld der Jugendlichen körperliche Übergriffe als Mittel der Konfliktlösung zunehmend verurteile. Die Kinder und Jugendlichen sind einer ständigen Reizüberflutung ausgesetzt. Die zahlreich verbreiteten Rap-Videos und Killerspiele habe ich bereits erwähnt. Aber auch die ganz Kleinen können früh lernen, dass Brutalität eine sozial anerkannte menschliche Eigenschaft ist. Wie sonst ist es zu erklären, wenn im Kinderkanal von ARD und ZDF z. B. am 17.9.2004 um ca. 16.30 Uhr folgende Szenen zu sehen sind: Ein Junge ist an einen Baum gefesselt. Ihm wird ein Knebel in den Mund gesteckt. Ein Jugendlicher schlägt einen anderen zusammen. Ein Mädchen klemmt einem Jungen absichtlich die Finger in der Autotür ein. Ein Junge wird mit einem starken Eisenhaken von hinten am Hals gepackt. Die Sprache ist ebenfalls brutalisiert: „Du wirst dafür bezahlen." Man könnte diese Aufzählung noch lange fortfuhren.

Zu einem letzten Punkt der Studie: Es wäre an der Zeit, nicht nur die deutschen Jugendlichen nach ihrer Haltung gegenüber Ausländern, Antisemitismus und Rechtsextremismus zu befragen. Wenn die Jugendlichen im Hinblick auf rassistische.Entwicklungen beobachtet werden sollen, was ich für richtig halte, dann bitte in jede Richtung: Es findet sich in bestimmten sozialen Brennpunkten inländerfeindliches und zunehmend antisemitisches Gedankengut, das in Anbetracht der demografischen Entwicklung in Deutschland, langfristig gesehen, in Rassismus gegenüber den nichtmigrantischen Bevölkerungsteilen ausarten kann. In einem Verfahren gegen türkisch- und kurdischstämmige Jugendliche und Heranwachsende, die in einem Bus gegenüber deutschen jungen Frauen äußerten: „Deutsche kann man nur vergasen", war die Betroffenheit der Opfer jedenfalls greifbar.

Unter diesem Phänomen leiden im Übrigen zunehmend Homosexuelle, die auch von Deutschen schon immer eher herablassend behandelt wurden. Viele Türken und Araber verachten Schwule und behandeln sie dementsprechend. Muslime sehen Homosexuelle oft als einen Auswuchs des dekadenten Westens an. Dementsprechend bedrohlich stellt sich die Lage dar, wenn sich ein schwuler Türke oder Araber „outen" will. Dann riskiert er sein Leben. Es existieren in Berlin bereits Hilfseinrichtungen für homosexuelle Muslime, die diese vor ihren Familien verstecken und schützen.

Auch vor diesem Hintergrund habe ich übrigens einige Zeit nach der Veröffentlichung der Studienergebnisse mit großer Irritation zur Kenntnis genommen, dass der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Dr. Christian Pfeiffer, in den Medien - offensichtlich auf der Grundlage eben jener Studie -verkündete, dass strenggläubige muslimische Jugendliche gewaltbereiter sind als ihre christlichen Altersgenossen. Von dieser unbestreitbar bedeutsamen Feststellung war in dem zuvor dargestellten Fachbeitrag jedoch keine Rede gewesen. Im Gegenteil: Dort wird die vermehrte Begehung von Gewaltdelikten bei Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft mit der ihnen gegenüber angeblich selektiv höheren Anzeigebereitschaft der Opfer sowie vornehmlich mit sozialen Ursachen in Verbindung gebracht. Das pauschale Ergebnis des Fachbeitrags, die Gewaltbereitschaft der Jugendlichen sei insgesamt gesunken, ist deshalb aus meiner Sicht nicht haltbar und angesichts der späteren öffentlichen Darstellung Pfeiffers auch ungeeignet, Jugendrichter und -Staatsanwälte mit validen kriminologischen Erkenntnissen auszustatten - worauf sich zumindest einige meiner Kollegen bislang verlassen haben.

 

Das Ende der Geduld
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